Ist Yoga tatsächlich für alle da und für alle gut? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares «Jein». Yoga hat seit dem 19. Jahrhundert im Westen einen Siegeszug gefeiert, der seinesgleichen sucht. Weltweit machen 300 Millionen Menschen Yoga. In der Schweiz sind es rund 13% der Bevölkerung, die sich mehr oder weniger regelmässig auf eine Matte stellen*. 80 Milliarden Dollar werden jedes Jahr weltweit umgesetzt. Und dennoch: Yoga ist nicht ungefährlich. Und an sich geht es in dieser alten vedischen Tradition um etwas ganz anderes, als um Bewegung.

Zunächst einmal ist Yoga nicht dazu gedacht, den Körper fit zu halten. Vielmehr geht es darum, nicht an den Körper und all seine zahlreichen Problemchen denken zu müssen, während der Meditation. Darauf weist auch der 46igste Vers im zweiten Teil der Yoga-Sutras von Patanjali hin: स्थिरसुखमासनम् || 2.46 || sthira-sukham āsanam. Das heisst frei übersetzt so viel wie stabil und voller Leichtigkeit soll die Position sein. Sthira und Sukha stehen also für Stabilität und Leichtigkeit. Und nicht für Yin und Yang, wie man bisweilen im Internet lesen kann. Yin und Yang sind chinesische Begriffe und haben im Yoga nun wirklich nichts verloren. Es ist ein wichtiger Vers in den Yoga-Sutras. Aber wie die Nummer 2.46 erahnen lässt, kommt er eben erst ganz weit hinten im zweiten von vier Teilen. Der Umgang mit unserem Geist und mit der bisweilen schier unzähmbaren Kraft unserer Gedanken steht klar im Vordergrund in diesem grundlegenden Text rund um Yoga. Der körperliche Teil dieser uralten Praxis ist dazu da, den Körper darauf vorzubereiten, stundenlang in Meditation zu sitzen. Das macht Yoga natürlich prädestiniert für all jene Menschen, die auch stundenlang sitzen – zwar nicht in Meditation aber im Büro.

Durch Bewegung Stille finden

Das dürfte einer von zwei entscheidenden Faktoren sein für den grossen Erfolg von Yoga im Westen: Dass Yoga wirksam den Rückenschmerzen entgegenwirkt, die wir uns beim Sitzen einhandeln. Der andere Faktor ist etwas subtiler. Wenn wir unseren Körper achtsam und mit der Atmung bewegen, dann haben wir eine gute Chance, dass unser Geist zur Ruhe kommt. Und je besser die jeweilige Yoga-Lehrperson ihren Job macht, umso grösser ist diese Chance. Wir bewegen also unseren Körper, um Stille im Geist zu finden. Und das ist etwas, das in unserer hektischen Welt gleichzeitig selten und wertvoll ist. Im Westen wird dieser Komponente zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Oft steht die Bewegung so stark im Fokus, dass die Stille daneben keine Chance hat. Deshalb ist es wichtig, dass nicht nur Yoga als Gymnastik unterrichtet wird, sondern Yoga als Teil der vedischen Tradition aus Indien. Nicht mit dem Ziel der Beweglichkeit, sondern mit dem Ziel endlich einmal still zu stehen. Auf der Matte und im Kopf. So international der Erfolg von Yoga auch ist – er ist untrennbar mit Indien und dessen Traditionen verknüpft. Es ist daher für mich eine Frage des Respekts, nicht einfach den körperlichen Teil herauszulösen, sondern Yoga in all seinen Aspekten zuerst zu leben und erst dann weiter zu tragen.

Heilsam – aber nicht ungefährlich

Zu guter Letzt ist es wichtig, zu erwähnen, dass Yoga keinesfalls ungefährlich ist. Wer ernsthafte Verletzungen hinter sich hat, sollte sich ausschliesslich in die Hände einer sehr erfahrenen Lehrperson begeben. Idealerweise jemand mit fundiertem anatomischen und physiologischen Wissen. Denn auch wenn Yoga durchaus heilsam sein kann, so kann es auch beim Yoga durchaus zu ernsthaften Verletzungen kommen. Leider auch bei vorher gesunden Menschen. Und das tut es auch immer wieder. Denn es ist im Westen und auch in der Schweiz nach wie vor so, dass es bei den meisten angebotenen Ausbildungen fast schon unmöglich ist, durchzufallen (sogar in den touristischen Hochburgen wie Goa oder Rishikesh ist das so). Was natürlich nicht so gut ist, für die Nachvollziehbarkeit der Qualifikation von Lehrpersonen.

Womit wir zurück wären, beim eingangs erwähnten Jein: Yoga kann für alle Menschen einen Mehrwert bringen, davon bin ich fest überzeugt. Aber Voraussetzung dafür sind ein respektvoller Umgang mit dieser Tradition und umsichtiges Üben unter professioneller Anleitung.

* Quelle: BASPO-Zahlen 2020 (Prozentangabe ist einschliesslich Pilates und «Bodymind», was auch immer das genau sein soll)